Neurodeversität – von einem fremden Planeten?

Das ist es, was oft von neurodiversen Menschen zu hören ist. Sie verstehen nicht – oder viel besser – worum es geht, weil es zu verklausuliert oder zu einfach ist. Oder weil ihre Gedanken und die daraus entstehenden Welten zu komplex oder weit weg von dem sind, was andere Menschen bereit oder in der Lage sind, zu denken.

In einem Interview des StudiVZ Gründers sagt dieser sinngemäß, dass die Welt mit einem wie ihm wohl wenig anfangen kann. Eine gewagte Aussage für jemanden, der die bis dahin erfolgreichste Internetplattform in Deutschland aufgebaut hat. Er selbst ist neurodivers, was sich durch ADHS bei ihm äußert. Natürlich kann die Welt mit einem wie ihn etwas anfangen. Vielmehr ist es so, dass er der Welt, in der er lebt, wenig abgewinnen kann. Er redet unglaublich schnell, durchdringt die Dinge, ist geplagt von Einsamkeitsgefühlen und von Nichtverstandensein.

Hier möchte ich beginnen und ich beziehe mich vor allem auf zwei Autoren.

Patrice Wyrsch ist Forscher und hat die bisherigen Ergebnisse zur Forschung an und mit Neurodivergenz zusammengetragen und in einem Buch veröffentlicht. Er schreibt dort:

Neurosensitivität ist «die Fähigkeit, Umgebungsreize zu registrieren und zu verarbeiten» (PLUESS, 2015zitiert in GREVEN ET AL, 2019: 288). Hochsensitivität bzw. erhöhte Neurosensitivität ist somit die erhöhte Fähigkeit, Reize zu registrieren und zu verarbeiten. Gemäß Prof. Dr. Michael Pluess basiert diese Wahrnehmungsfähigkeit auf der (unterschiedlichen) Sensitivität des zentralen Nervensystems. Daher verfügen alle Organismen mit einem Nervensystem über unterschiedliche Sensitivitätslevels.

Patrice Wyrsch hat in seinem Buch vier Bereiche aufgezeigt, in denen sich Neurodivergenz zeigen kann. Dies sind Emotionalität, erhöhte Empathie, vertiefte Informationsverarbeitung und erhöhte Anfälligkeit für Überstimulation. Alle vier Bereiche konnten durch Studien belegt werden. Auf seiner Seite hat er einen Sensitivitäts-Check veröffentlicht.

Mehr von allem

In erster Linie heißt das, dass viele Menschen auf die eine Weise wahrnehmen und denken, während eine Minderheit auf die andere Weise wahrnimmt und denkt. In einer Gesellschaft oder einem anderen System werden die Dinge in der Regel so angegangen, strukturiert und erledigt, wie es die meisten tun würden oder tun. Die Mehrheit begreift sich als Normalität und beschließt, wie die Welt zu laufen hat. Die Minderheit kann entweder nicht mithalten, weil sie die Dinge anders begreift und muss dafür nicht selten Nachteile in Kauf nehmen, und das, obwohl sie ein Vielfaches dessen leisten könne, wozu ein neurotypischer Mensch in der Lage ist, wenn man sie lässt – oder vielmehr, wenn sie sich selbst lassen.

Priorisierung der Reize

Zur Erinnerung: Neurodiversität äußert sich zunächst einmal in einem Zuviel. Durch eine andere Vernetzung der Hirnstrukturen nimmt der neurodiverse Mensch wesentlich mehr Reize aus der Umwelt wahr, als andere. Gleichzeitig fehlt die Fähigkeit, die wichtigen Reize herauszufiltern und die unwichtigen zu ignorieren oder gar fallen zu lassen. Alles wird gleichberechtigt wahrgenommen und durchdacht. So kommt es, dass gleichzeitig mehrere Geschichten gleichzeitig gedacht und analysiert werden.

Erhöhte Emotionalität

Das führt zu einer weiteren Eigenschaft, der Emotionalität. Wer viel und konkret durchdenkt, der kommt nicht drumherum, sich auf die Geschichten, die er denkt, einzulassen und sich auch der entstehenden Emotionen hinzugeben. So passiert es, dass ein neurodiverser Mensch von einem Moment auf den anderen seine Stimmung wechselt. Da dies aufgrund blitzschneller Gedanken aufgrund eines Reizes erfolgt, den andere erst gar nicht wahrgenommen, geschweige denn, durchdacht haben, kann die Umgebung natürlich überhaupt nicht nachvollziehen, was gerade passiert ist, dass ihr Gegenüber in solch eine Wut oder Euphorie gerät.

Wahrheit

Hinzu kommt, dass die Gedanken derart konkret und „gut“ sind, dass es eigentlich keinen Zweifel geben kann. Den gibt es natürlich bei den anderen. Einmal, weil sie nicht so schnell oder überhaupt über alles so konkret nachdenken können und außerdem dies auch nicht wollen. Sie haben die angenehme Eigenschaft, Prioritäten setzen und Gedanken, die ihnen unangenehm werden, stoppen zu können, um sich dann wieder den angenehmen Dingen hinzugeben. Allerdings ist die Motivation nicht, sich nicht mit unangenehmen Dingen beschäftigen zu wollen. Vielmehr geht es um die Abwägung, was im Moment wichtig ist und was ungemein viel Kraft und Engagement kosten würde, es zu ändern. Es ist also wieder eine Abwägung zwischen dem Machbaren und dem Wichtigen. Diese wiederum fehlt dem neurodiversen Menschen oft, was nicht heißt, dass dies so sein oder bleiben muss.

Gerechtigkeit

Beim Neurodivergenten Menschen kommt hinzu, dass er mit unausgegorenen Gedanken oder gar Ungerechtigkeiten („die es nun mal gibt“, wie der neurotypische Mensch sagt) schwer umgehen kann. Auch wenn sich nichts daran ändern lässt: Es muss raus, zum Leidwesen aller, denn die haben das Thema schon abgehakt und nehmen sich dem Machbaren an. Zudem sind viele dieser Ungerechtigkeiten kaum oder zumindest nicht realistisch von einem Menschen alleine zu ändern (das Weltklima, Kriege, die Situation von Flüchtlingen, etc.). Wenn alle es nur so sähen, wie es der neurodivergente Mensch tut, dann wäre die Welt in Ordnung. Dabei ist es nicht so, dass er ein Besserwisser wäre. Vielmehr ist er davon überzeugt, dass das Ergebnis seiner Gedanken das bessere ist. Und nicht selten sind die Dinge besser und vielschichtiger durchdacht, einfach, weil er es kann.

Spiritualität

Wenn ich abends in den Himmel schaue oder tagsüber das Leben betrachte, das auf unserer Erde zu finden ist, dann kann ich unmöglich annehmen, dass, was wir hier erleben, alles sein soll. So könnte ein neurodiverser Mensch reden. Für ihn gehört Spiritualität, in welcher Form auch immer, dazu. Das kann sich sehr unterschiedlich äußern, von der Annahme einer Existenz, die unser Universum steuert, bis zu metaphysischen Annahmen oder Modellen, die derzeit angedacht werden (Multiversum, Quantenmechanik). Sie äußert sich auch in Gedanken über ein Leben vor der Geburt und nach dem Tod.

Soweit eine recht kurze und unvollständige Aufzählung verschiedener Zustände, die Neurodiversität beschreiben können. Nun mag man annehmen, dass ein hochsensitiver Mensch den ganzen Tag am Leiden ist, weil er so viel wahrnimmt und verarbeitet, mit zugehaltenen Ohren überall zu sehen ist, weil ihn jedes Geräusch stört. Dem ist natürlich nicht so. Er ist es gewohnt, viel wahrzunehmen und dementsprechend zu denken, zu schlussfolgern und auch mitzuteilen.

Der Prophet im eigenen Land

Es ist aber auch so, dass ein neurodiverses Gehirn nicht die Entscheidung treffen kann, jetzt etwa mehr und dann etwas weniger zu denken. Es nimmt ununterbrochen wahr, es denkt ununterbrochen über das Wahrgenommene nach, es vergleicht, es verknüpft und versucht dabei, Informationen so zu verarbeiten, dass dabei ein gerechtes Ergebnis für alle herauskommt. Das funktioniert natürlich nicht immer. Denn einerseits wollen viele Menschen die Segnungen der Seher nicht und andererseits können sie die Gedanken und die daraus folgenden Ergebnisse auch nicht nachvollziehen. Kurzum: Der neurotypische Mensch will seine Ruhe und die Dinge so lassen, wie sie sind. Nachfragen werden nicht selten als Provokation gesehen oder als Spinnerei.

Das heißt ja auch nicht, dass der neurodiverse immer recht hat. Er sieht die Dinge erst einmal differenzierter und kann mehr und schneller Verknüpfungen herstellen, um ein Thema zu beleuchten. Genau hier liegt das Dilemma.

Rückzug

Aus diesem Verhalten und den (durchaus verstehbaren) ablehnenden Reaktionen folgt Frust, zumindest so lange der neurodiverse Mensch nicht um seine Fähigkeiten und Unfähigkeiten weiß. Daraus können dann auch Erkrankungen entstehen, die nicht aus der Neurodiversität, sondern aus dem Verhalten darauf durch die Umwelt erfolgen. Vor allem aber können Radikalisierung und vor allem Rückzug eine Konsequenz sein. Radikalisierung folgt aus der Wut heraus, nicht ernst genommen zu werden und ist die Konsequenz aus dem Nicht loslassen können seiner Schlussfolgerung. Viel eher folgt aber der Rückzug. Wer den Eindruck hat, dass seine Fähigkeiten nicht gewünscht sind oder gar pathologisiert oder charakterlich diskreditiert wird, um sich nicht weiterhin mit unangenehmen Gedanken beschäftigen zu müssen, wird sich den Beurteilungen anderer nicht mehr weiter aussetzen wollen.

Einsamkeit

Einsamkeit ist nicht nur die Konsequenz aus der Ablehnung durch die anderen. Sie ist neurodiversen Menschen nicht selten innewohnend. Nicht zuletzt liegt das daran, dass sie von Beginn an anders denken und fühlen. Ein Kind wird dies nicht intellektuell erfassen können und auch ein Erwachsener tappt meist im Dunkeln. Oft werden die Verhaltensweisen der anderen nicht verstanden, gesellschaftliche Regeln erscheinen nicht logisch und die Behandlung der meisten Themen an der Oberfläche langweilen. Es ist nicht so, dass der Neurodiverse die anderen dafür verachtet. Vielmehr hat er das Gefühl, selbst nicht dazuzugehören.

Ein Beispiel

Ein Zehnkämpfer wird nicht als solcher geboren. Er wird aber mit der entsprechenden körperlichen Ausstattung geboren, der nötigen Disziplin und bestenfalls einer guten Unterstützung durch die Eltern. Niemand wäre ernsthaft neidisch auf den Sportler oder würde ihn deswegen ausgrenzen. Nicht zuletzt weiß jeder, dass es auch Dinge gibt, die der Sportler nicht kann. Vielmehr würde man ihn bewundern und anfeuern und gegebenenfalls nach Hilfe fragen, wenn man etwas über gutes Training erfahren wollte.

Bei Hochsensiblen, autistischen oder ADHS-Menschen macht man das eher nicht. Man pathologisiert sie nicht selten, weil ihr Verhalten störend ist und sei es nur, weil es anders ist. Dabei sind diese Menschen mit Fähigkeiten gesegnet, die sie in vielen Situationen besser dastehen lassen, als andere. In anderen wiederum nicht. Vor allem sind sie in der Lage, Visionen zu erzeugen und Lösungen für komplexere Probleme, die kreativer sind, als viele andere.

Als erstes gilt es zu verstehen, dass Neurosensitvität keine Krankheit sondern eine Besonderheit ist. Sie zu erkennen, anzuerkennen und sich damit zu beschäftigen und eine guten Umgang damit zu finden, sodass die störenden Eigenschaften kompensiert und die nützlichen entsprechend eingesetzt werden können. Das ist die Herausforderung für den Einzelnen, aber auch für die gesamte Gesellschaft, die davon profitieren kann.

 

Neurodiversität – was ist das?

Die Beschreibung psychischer Störungen

In der Psychiatrie werden Krankheitsbilder unterschieden. Die Depression von der Manie, von der Angst, von der Psychose, und so weiter.

Die Ursachen sind unterschiedlich, zum einen reaktiv auf die Ereignisse im Umfeld, oder endogen, von irgendwo herkommend, aus dem Inneren, vermutlich dem Neurotransmitterhaushalt. So wurde in den achtziger Jahren darauf hingewiesen, dass Depressionen aus einem Mangel an Serotonin entstehen. Serotonin ist ein Hormon, das für die Weiterleitung von Reizen im Gehirn zuständig ist. Diese Geschichte war nichts weiter als eben das: Eine Geschichte. Sie wurde dankbar aufgenommen, schnell falsifiziert (der Serotoninspiegel depressiver Menschen ist sehr unterschiedlich, hoch oder niedrig), geistert aber heute noch in Fachliteratur und in den Namen der Antidepressiva herum.

Und so versucht man, Ursachen dieser vielen unterschiedlichen Erkrankungen irgendwie zu ergründen. Dokumentiert sind alle in der ICD der Weltgesundheitsorganisation oder dem DSM der amerikanischen Vereinigung der Psychiater, an sich recht ähnliche Verzeichnisse, die sich in manchen Einschätzungen unterscheiden.

Das triadische System

Im Vorgänger dieser analytischen Werke, die eine klare Symptomliste vorschreiben, um die Erkrankungen diagnostizieren zu können, ging ein anderes System voraus. Während die ICD und das DSM sich nur noch auf die Symptome, die Phänomenologie, einer Störung beziehen, beschrieb das triadische System die Ursachen.

Das triadische System teilte die psychischen Störungen in drei Bereiche auf. Die rein psychogenen Störungen bezogen sich vor allem auf neurotische Störungen wie Angst, Zwang und somatoforme Störungen. Die rein exogenen Störungen beschrieben die durch körperliche Erkrankungen oder externe Stoffe ausgelöste psychische Störungen. Die endogenen Störungen wiederum bezogen sich vor allem auf schwere Depressionen und psychotische Erkrankungen, die so schwerwiegend eingestuft wurden, dass man davon ausging, hier noch eine körperliche Komponente einbeziehen zu müssen. Dabei war immer recht unklar, welche das sein könnte.

Inhalt und Struktur

Dazu lohnt es, sich zu vergegenwärtigen, dass unser Gehirn, Stand heute, sowohl die Speicherung unseres Wissens, als auch dessen Bearbeitung beinhaltet. Zum Vergleich, sind die Einheiten der Speicherung und der Verarbeitung in einem Computer getrennt – noch. Heißt, es gibt eine Festplatte mit allem Wissen und einen Prozessor für dessen Verarbeitung.

Beides, Speicherung und Verarbeitung, hängt sowohl vom Vorhandensein der entsprechenden Hormone ab, also auch vom Aufbau des Gehirnes. Beides erledigt in Zusammenarbeit die entsprechenden Aufgaben. Nach neueren Erkenntnissen hatte das triadische System gar nicht so unrecht, wenn es eine körperliche Beteiligung bei psychischen Störungen postulierte. Allerdings ist das wohl nicht nur bei schweren Depressionen oder psychotischen Störungen der Fall, sondern kann bei allen Störungen eine Rolle spielen.

Kurzer Einschub: Wenn wir von körperlichen Einflüssen hören, dann gehen wir meist von körperlichen Störungen aus. Irgendwas im Gehirn muss also krank sein und deshalb wird auch unsere Psyche krank.

Eine neue Perspektive

Mit den Begriffen „Neurotypisch“ und „neurodivergent“ hat man schon ab 2012 eine neue Sichtweise, auch auf die vorher aufgeführten Erkrankungen geschaffen. Sie rückt sogar teilweise von diesem pathozentrischen Weltbild ab. Doch von Anfang an: Was heißt das überhaupt, neurotypisch, pathozentrisch? Die gängigen Therapiemodelle schauen mit der Erkrankung im Mittelpunkt auf den Patienten. Das nennt man pathozentrisch. Der depressive Mensch also hat entweder eine Störung des Neurotransmitterhaushaltes oder dysfunktionale Gedanken. Beides muss reguliert werden, der Neurotransmitterhaushalt mit Medikamenten, die dysfunktionalen Gedanken mit einer Therapie.
Medikamente, das ist mittlerweile Status Quo, helfen allenfalls bei schweren Depressionen über den Placeboeffekt hinaus. Therapien sind ebenso kein Garant für eine nachhaltige Heilung oder Remission, wie der Begriff Heilung lieber umrissen wird.

Mit dem Konzept der Neurodivergenz beschreibt man nun eine Funktionsweise, die weder etwas an sich krankhaftes, noch falsch Erlerntes beschreibt. Vielmehr bildet sie ein Spektrum formalen Denkens ab, das sich in wesentlichen Dingen von denen der meisten anderen (neurotypischen) Menschen unterscheidet.
Zur Neurodivergenz gehören z.B. die Autismus-Spektrum-Störung, die Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperkinetische Störung oder die Hochsensibilität. All dies sind Zustände, die dann als störend bezeichnet werden können, wenn sie auf die falsche Umgebung treffen.

Die Umgebung macht die Störung

Diese falsche Umgebung kann zu laut oder zu grell sein, es können Bildungseinrichtungen sein, die auf neurotypische Menschen ausgelegt sind, was auf die meisten zutrifft, das neurotypische Menschen schätzungsweise 80 % der Menschen ausmachen. Kurzum, alle Situationen, gesellschaftliche Anlässe aller Art, die an bestimmte Fähigkeiten anknüpfen, sind für die meisten Menschen normal und handhabbar. Für neurodivergente Menschen bedeuten sie eine große Herausforderung.

Neurodivergente Menschen sind vor allem in drei Bereichen anders ausgestattet oder talentiert

  1. Unterschiede in der Wahrnehmung
    Sinneseindrücke werden anders gefiltert, verstärkt und empfunden. Licht wird greller wahrgenommen, einzelne Instrumente eines Musikstückes werden fokussiert und blenden den Rest des Songs aus, einzelne Geräusche in einem Raum stärker empfunden und verhindern die Konzentration auf ein Gespräch.
    Die Unterdrückung nicht wichtiger Komponenten in der Umgebung oder gar die Hervorhebung einzelner Wahrnehmungen, bewirken, dass der neurodivergente Mensch anders mit der Umwelt umgeht und sie vor allem auch anders interpretiert.
  1. Unterschiede im neurochemischen Stoffwechsel
    Hier wird vor allem auf das Hormon Dopamin verwiesen, das bei neurodivergenten Menschen zu schnell abgebaut wird. Bei ADHS bewirkt dies eine geringere Aufmerksamkeitsspanne.
  1. Unterschiede der neuronalen Verknüpfungen
    Dies hat Einfluss auf die Art und Weise, wie mit Reizen umgegangen wird. Werden sie unterdrückt oder hervorgehoben? Denke ich an einer Sache bis ins Detail herum oder lasse ich es auf sich beruhen?

Das bedeutet, dass neurodivergente Menschen meistens mehr und intensiver wahrnehmen, die Dinge weitaus detailreicher bedenken, weniger Wert auf Etikette oder das Aussprechen unangenehmer Wahrheiten oder Fragen legen. Mit all diesen Eigenschaften stören Sie allerdings auch das soziale Gefüge, das sich eher im Einhalten sozialer Codes statt im Initiieren wichtiger Veränderungen übt und auch Tabuthemen lieber unterdrückt, statt sie anzusprechen.

„Jetzt lass doch mal gut sein!“, oder „Denk nicht so viel darüber nach!“ sind häufige Entgegnungen. Der Neurodivergente mag antworten „Denk doch mal etwas mehr nach!“. Das allerdings stößt dann wieder auf Gegenwehr, denn die meisten Menschen denken eben neurotypisch.

Nicht weniger, sondern anders.

Das bedeutet übrigens nicht, dass sie seltener oder wirklich weniger denken, sondern, dass sie die Denktiefe eines neurodivergenten nicht haben. Sie stoppen die Gedanken, bevor sie in seltsame oder beängstigende Gefilde vorstoßen. Sie priorisieren besser.

Während das neurodivergente Gehirn einkommende Reize am liebsten gleich verarbeitet und ihnen nachgeht, kann das neurotypische Gehirn eingehende Reize ausblenden oder priorisieren. So schlittert der neurodivergente Geist von einer Situation in die andere, weil die gerade in seinem Sichtfeld auftaucht. Das hört sich anstrengen an und ist es auch – in bestimmten Situationen. In anderen Umgebungen wiederum ist es der neurotypische Geist, der diese als anstrengend empfindet.

Vor- oder Nachteil?

Für beide Typen gibt es Situationen, die sie zu ihrem Vorteil nutzen können und solche, die ihnen zum Nachteil gereichen. Neurodivergente Menschen sind besser im Beschreiben von Visionen, finden von Ideen und über den Tellerrand denken. Im Gegenteil – nur da fühlen sich viele überhaupt erst wohl. Neurotypische Menschen sind in der Regel besser in der Umsetzung dieser Ideen. Insofern braucht man jede Art Denkerin und Denker. Trotzdem haben neurodivers denkende Menschen hier und da durchaus mehr Probleme bei der Alltagsbewältigung, da sich das Leben eben an der Norm orientiert. Insofern sollte man allerdings nicht verzagen, sondern sich darum kümmern, wer man ist und dementsprechend in der Welt den Platz finden, auf den man am besten passt und das hinzunehmen, was eben nicht so passt.

Das Potenzial, das zu erkennen und zu tun, haben neurodivergente Menschen jedenfalls.

Das Innere Kind im Alleingang

Das innere Kind ist seit vielen Jahren in aller Munde, zumindest in deren Munde, die an sich arbeiten wollen, sich unwohl fühlen oder glauben, Vergangenes aufarbeiten zu müssen, um sich wohl zu fühlen. Doch ist diese Methode für jede, jeden und immer geeignet? Natürlich nicht, denn das kann keine Methode leisten und vor allem die Selbsthilfe stößt hin und wieder an ihre Grenzen.

Dazu gibt es hier einen Artikel.

 

Antidepressiva – helfen sie wirklich?

Es ist ein Phänomen, dass aus einem scheinbaren Marketingtrick eine Medikamentenbezeichnung wurde, die zumal von allerlei Expertinnen und Experten immer wieder so weitergegeben wird: Die SSRI, die selektiven Re-uptake Inhibitors, also die Antidepressiva, die angeblich die Botenstoffe aus dem synaptischen Spalt zurückholen und damit die Reizweiterleitung depressiv werden lassen. Seltsam nur, dass sich eine derartige Konzentration gar nicht messen lässt und dass es bei depressiven Patienten sowohl ein Zuviel als auch ein Zuwenig an Serotonin gibt. Hier empfehle ich das Buch Neuromythologie: Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung von Felix Hasler

Ungeachtet dessen zeigen Studien ebenso, dass Antidepressiva oftmals nicht über den Placeboeffekt hinausgehen. Allenfalls bei mittelschweren, am ehesten noch bei schweren Depressionen zeigen sie eine messbare Wirksamkeit.

Die ARD hat hierzu eine Dokumentation, die ich sehr ans Herz legen kann: Hier gehts zur Doku.

 

ICD 11 – was ist neu?

Die ICD-11

International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems”, zu Deutsch und vereinfacht: „Internationale Klassifikation der Krankheiten“.

Seit Anfang 2022 ist die ICD-11 veröffentlicht und wird nun mit einer Übergangsfrist von fünf Jahren implementiert. Die neue ICD unterscheidet sich schon rein optisch, was an der neuen Kodierung liegt. Zudem wurden die Unterteilungen der Störungen verändert. Auf der Webseite https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/_node.html kannst Du die Entwurfsfassung der deutschen ICD-11 anklicken und gelangst zur eigentlichen ICD. Diese wird, anders als die ICD-10 nur noch online angeboten und ist mit einer entsprechenden Suchfunktion ausgestattet. Vermutlich wird es aber in den entsprechenden Verlagen auch Literatur mit den entsprechenden Diagnoserichtlinien geben.

Was also ist neu in der ICD-11? Hier ein kurzer Überblick:

Die psychischen Störungen werden weitestgehend unter dem Punkt 6 abgehandelt. Dort heißt es „Psychische Störungen, Verhaltensstörungen oder neuronale Entwicklungsstörungen“.

Weiterhin sind die Schlafstörungen in Kapitel 7 klassifiziert, in Kapitel 17 wiederum sind die sexuellen Funktionsstörungen und auch die Genderinkongruenz hinterlegt. Dies wurde in der ICD-10 unter Transsexualität geführt. Diese beiden Kategorien werden in Kapitel 6 übrigens auch angezeigt, allerdings ausgegraut. Damit wird angezeigt, dass diese Kategorien zwar auch zu den psychischen Störungen gehören, aber eben an anderer Stelle klassifiziert sind.

Ebenso sind noch die 21 „Symptome oder klinische Befunde, anderenorts nicht klassifiziert“ und 24 „Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen oder zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens führen“ wichtig. Hier finden sich zusätzliche Informationen wie „Symptome oder klinische Befunde, die die Psyche oder das Verhalten betreffen“, diese können mit dem entsprechenden Code dann kombiniert werden. Man kann hier z.B. Punkte finden wie „Problematik in Verbindung mit drohendem Arbeitsplatzverlust oder auch die verlängerte Trauerstörung.

Wird beispielsweise eine soziale Phobie (6B03) ermittelt, kann diese ergänzt werden mit einer Panikattacke als Begleitsymptom (MB23.H). Das nennt sich hier Postkoordination.

Eine Auswahl an zur Verfügung stehenden Zusatzdiagnosen wird beim Anklicken der Störung unter der Überschrift Postkoordination auch angezeigt.

Auch kann der Schwergrad einer Erkrankung durch einen Extension-Code ergänzt werden. Diese Zusatzkriterien befinden sich in der Rubrik X (für eXtension)

Änderungen in den Krankheitsbildern

Die Störungen werden nicht mehr in Altersklassen unterteilt, in denen sie auftreten. So sind Störungen, die in der ICD-10 dem Kindesalter zugeordnet waren nun in den Erwachsenenkapiteln untergebracht.

Bei den Persönlichkeitsstörungen hat man auf die bisherige Unterteilung verzichtet und man kann jetzt die Schwere der Ausprägung bestimmen. Durch eine Postkoordination kann allerdings eine Tendenz der PS ausgewählt werden.

 

So kann eine mittelgradige PS diagnostiziert werden (6D10.1 Mittelgradige Persönlichkeitsstörung) mit einer negativistischen Einstellung (6D11.0 Negative Affektivität bei Persönlichkeitsstörung oder -problematik). Die Codierung wäre dann 6D10.1/6D11.0.

Es wurden zudem neue Krankheitsbilder aufgenommen, wie z.B. die körperdysmorphe Störung, die Hoarding  Störung (Dinge horten – Messie-Syndrom) oder die Binge-Eating-Störung.

Der Burnout wird nun als Berufsphänomen (QD85) und nicht als ein medizinischer Zustand verschlüsselt.

Ausgliederung von Schlaf-Wach- und Sexualstörungen

Die „Störungen der Geschlechtsidentität“ und die „Schlafstörungen“ sind nicht mehr bei den psychischen Störungen angesiedelt, sondern in den separaten neuen Kapiteln: 17 „Bedingungen im Zusammenhang mit der sexuellen Gesundheit“ und 7 „Schlaf-Wach-Störungen“

Störungen, die spezifisch Stress-assoziiert sind

Die „Akute Belastungsreaktion“ wird im Kapitel 24 eine (QE84) verschlüsselt.

Die ‚Anhaltende Trauerstörung‘ (6B42) ist eine neue Diagnose, welche eine chronifizierte Trauerreaktion nach dem Tod einer nahestehenden Person (vor mindestens 6 Monaten) verschlüsseln kann.

Bei der ‚Posttraumatischen Belastungsstörung‘ (PTBS, 6B40) hat sich u.a. das Traumakriterium verändert; neu wird in der ICD-11 auf die subjektive Komponente des Traumakriteriums („… die nahezu bei jedem tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde“) verzichtet und lediglich die objektive Komponente belassen („Ereignis oder Serie von Ereignissen von außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß“).

Eine neue Diagnose ist die ‚Komplexe PTBS‘. Damit diese Diagnose gestellt werden kann, müssen (neben der Erfüllung des Traumakriteriums) die PTBS-Kriterien erfüllt sein (d.h. Wiedererleben, Vermeidung, anhaltende Bedrohungswahrnehmung), sowie Symptome aus drei weiteren Bereichen (Schwierigkeiten in der Regulierung von Emotionen, überdauerndes negatives Konzept des Selbst, Beziehungsschwierigkeiten). Die Komplexe PTBS präsentiert sich klinisch als ein heterogenes Störungsbild, welches gemäß neuster Untersuchungen keine Alters- und Geschlechtsunterschiede aufzeigt (Maercker et al., 2018) und sich von einer Persönlichkeitsstörung mit Borderline Muster (welche sich klinisch ähnlich präsentieren kann) als separates Störungsbild sinnvoll abgrenzen lässt (Maercker, 2021).

Fazit: Die ICD 11 ist komplexer geworden, bietet aber auch differenziertere Möglichkeiten der Diagnose und auch der Auswertung durch die WHO. Für die Überprüfung wird sich erst einmal nichts ändern, zumal die Übersetzung und die entsprechenden Diagnosen noch nicht zur Verfügung stehen.

Durch die Bereitstellung der ICD in der Onlineversion mit einer guten Suchfunktion ist der Gebrauch nach recht kurzer Zeit möglich und es lohnt, einmal hereinzuschauen.

Psycho-Pfusch oder Medien-Pfusch – Wie gefährlich sind Heilpraktiker?

Ich bin ein Verfechter der öffentlich-rechtlichen Medien, wobei die eben nur so lange funktionieren, solange die Aufsicht funktioniert und da darf man ja seine Zweifel anmelden. So auch bei der Sendung „Psycho-Pfusch Undercover: So gefährlich sind Heilpraktiker„.

Und wieder wird das alte Lied gespielt, dass hier mit fragwürdigen Methoden gearbeitet würde. Der Verband freier Psychotherapeuten VfP wurde hierzu auch mit Fragen konfrontiert, deren Beantwortung allerdings nicht mehr Einzug in den Bericht hätte finden können, da dieser bereits zur Ausstrahlung bereitstand. Auch wurden Begriffe wie Heilerin und Heilpraktikerin synonym verwendet und zudem wurde gesagt, dass Heilpraktikerinnen alles behandeln dürften. Kurzum ein Sammelsurium an Begriffen und Behauptungen, gezeigt an wenigen Beispielen, die den Zuschauern vermutlich suggerieren sollten, dass Heilpraktiker für Psychotherapie Scharlatane sind. Gezeigt hat er allenfalls, dass es überall Einzelfälle gibt, die natürlich nicht der Norm entsprechen. Ich warte derweil auf die Doku, die zeigt, dass dies in jeder Berufsgruppe so ist.

Hier findest Du die Sendung

Hier findest Du den Kommentar zur Sendung

Hier findest Du den Kommentar von Thomas Fydrich

Hier findest Du einen Kommentar von Nicole Schricker

Hier findest Du die Replik vom VfP

 

Weitere Kommentare dazu:

 

Ist ihr Kind vielleicht krank?

Man hört schon hin und wieder von Fachleuten, dass zu befürchten ist, dass so manche seelische Erkrankung sich dann doch eher in den normalpsychischen Bereich gehört. Ist aber das Kind erstmal in den Brunnen gefallen oder in die Hände einer psychotherapeutischen Praxis, dann ist es schwer, noch klarzumachen, dass man sich manchmal eben nicht so fühlt. Das soll und darf natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir in wahrlich aufreibenden Zeiten leben, in denen dank ständiger Information über das Ende der Welt viele Menschen über Gebühr beunruhigt.

Kinder können von alledem noch viel weniger Ahnung haben und sind darauf angewiesen, dass deren Eltern richtig entscheiden. Die Autorin dieses Artikels hat dies auch erlebt und findet beruhigende Worte an die, die sich gerne verunsichern lassen.

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Psychotherapie als lifestyle?

Immer mehr Menschen klagen über psychische Probleme. In den 80er Jahren war die multiple Persönlichkeit ein großes Thema. Dann kam die Borderline Persönlichkeit, der Burn-out oder als Dauerbrenner das ADHS. Manchmal hört man dann von sogenannten Trenderkrankungen.

Ist das alles tatsächlich der Versuch, sein Unwohlsein in eine Diagnose zu „gießen“ und ist Psychotherapie, wie man es den US-amerikanischen Menschen ja öfter nachsagt, ein Trend – oder steigen Burnout, Depression & Co. tatsächlich. In diesem Podcast kommen beide Meinungen zu Wort.

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Medikament gegen Alzheimer macht Hoffnung

Die Unternehmen Biogen und Eisasi haben einen Antikörper namens Lecanemab in einer Studie auf die Wirkung bei Alzheimer getestet und nach eigenen Angaben eine Verzögerung des geistigen Abbaus von rund 27 % bewirkt. Hier gehts zum Bericht

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Schlaf ohne Reue? Mit einem neuen Wirkstoff

Die EU hat nun ein neues Medikament zugelassen, das gegen Schlaflosigkeit hilft und, anders als Schlafmittel aus der Reihe der Z-Substanzen oder Benzodiazepine, nicht süchtig macht. Das Medikament heißt Quviviq und ist zur Behandlung erwachsener Menschen zugelassen, die seit mindestens drei Monaten unter Schlafstörungen leiden, die zudem beträchtliche Auswirkungen auf die Tagesaktivität haben.

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