Neurodeversität – von einem fremden Planeten?
Das ist es, was oft von neurodiversen Menschen zu hören ist. Sie verstehen nicht – oder viel besser – worum es geht, weil es zu verklausuliert oder zu einfach ist. Oder weil ihre Gedanken und die daraus entstehenden Welten zu komplex oder weit weg von dem sind, was andere Menschen bereit oder in der Lage sind, zu denken.
In einem Interview des StudiVZ Gründers sagt dieser sinngemäß, dass die Welt mit einem wie ihm wohl wenig anfangen kann. Eine gewagte Aussage für jemanden, der die bis dahin erfolgreichste Internetplattform in Deutschland aufgebaut hat. Er selbst ist neurodivers, was sich durch ADHS bei ihm äußert. Natürlich kann die Welt mit einem wie ihn etwas anfangen. Vielmehr ist es so, dass er der Welt, in der er lebt, wenig abgewinnen kann. Er redet unglaublich schnell, durchdringt die Dinge, ist geplagt von Einsamkeitsgefühlen und von Nichtverstandensein.
Hier möchte ich beginnen und ich beziehe mich vor allem auf zwei Autoren.
Patrice Wyrsch ist Forscher und hat die bisherigen Ergebnisse zur Forschung an und mit Neurodivergenz zusammengetragen und in einem Buch veröffentlicht. Er schreibt dort:
Neurosensitivität ist «die Fähigkeit, Umgebungsreize zu registrieren und zu verarbeiten» (PLUESS, 2015; zitiert in GREVEN ET AL, 2019: 288). Hochsensitivität bzw. erhöhte Neurosensitivität ist somit die erhöhte Fähigkeit, Reize zu registrieren und zu verarbeiten. Gemäß Prof. Dr. Michael Pluess basiert diese Wahrnehmungsfähigkeit auf der (unterschiedlichen) Sensitivität des zentralen Nervensystems. Daher verfügen alle Organismen mit einem Nervensystem über unterschiedliche Sensitivitätslevels.
Patrice Wyrsch hat in seinem Buch vier Bereiche aufgezeigt, in denen sich Neurodivergenz zeigen kann. Dies sind Emotionalität, erhöhte Empathie, vertiefte Informationsverarbeitung und erhöhte Anfälligkeit für Überstimulation. Alle vier Bereiche konnten durch Studien belegt werden. Auf seiner Seite hat er einen Sensitivitäts-Check veröffentlicht.
Mehr von allem
In erster Linie heißt das, dass viele Menschen auf die eine Weise wahrnehmen und denken, während eine Minderheit auf die andere Weise wahrnimmt und denkt. In einer Gesellschaft oder einem anderen System werden die Dinge in der Regel so angegangen, strukturiert und erledigt, wie es die meisten tun würden oder tun. Die Mehrheit begreift sich als Normalität und beschließt, wie die Welt zu laufen hat. Die Minderheit kann entweder nicht mithalten, weil sie die Dinge anders begreift und muss dafür nicht selten Nachteile in Kauf nehmen, und das, obwohl sie ein Vielfaches dessen leisten könne, wozu ein neurotypischer Mensch in der Lage ist, wenn man sie lässt – oder vielmehr, wenn sie sich selbst lassen.
Priorisierung der Reize
Zur Erinnerung: Neurodiversität äußert sich zunächst einmal in einem Zuviel. Durch eine andere Vernetzung der Hirnstrukturen nimmt der neurodiverse Mensch wesentlich mehr Reize aus der Umwelt wahr, als andere. Gleichzeitig fehlt die Fähigkeit, die wichtigen Reize herauszufiltern und die unwichtigen zu ignorieren oder gar fallen zu lassen. Alles wird gleichberechtigt wahrgenommen und durchdacht. So kommt es, dass gleichzeitig mehrere Geschichten gleichzeitig gedacht und analysiert werden.
Erhöhte Emotionalität
Das führt zu einer weiteren Eigenschaft, der Emotionalität. Wer viel und konkret durchdenkt, der kommt nicht drumherum, sich auf die Geschichten, die er denkt, einzulassen und sich auch der entstehenden Emotionen hinzugeben. So passiert es, dass ein neurodiverser Mensch von einem Moment auf den anderen seine Stimmung wechselt. Da dies aufgrund blitzschneller Gedanken aufgrund eines Reizes erfolgt, den andere erst gar nicht wahrgenommen, geschweige denn, durchdacht haben, kann die Umgebung natürlich überhaupt nicht nachvollziehen, was gerade passiert ist, dass ihr Gegenüber in solch eine Wut oder Euphorie gerät.
Wahrheit
Hinzu kommt, dass die Gedanken derart konkret und „gut“ sind, dass es eigentlich keinen Zweifel geben kann. Den gibt es natürlich bei den anderen. Einmal, weil sie nicht so schnell oder überhaupt über alles so konkret nachdenken können und außerdem dies auch nicht wollen. Sie haben die angenehme Eigenschaft, Prioritäten setzen und Gedanken, die ihnen unangenehm werden, stoppen zu können, um sich dann wieder den angenehmen Dingen hinzugeben. Allerdings ist die Motivation nicht, sich nicht mit unangenehmen Dingen beschäftigen zu wollen. Vielmehr geht es um die Abwägung, was im Moment wichtig ist und was ungemein viel Kraft und Engagement kosten würde, es zu ändern. Es ist also wieder eine Abwägung zwischen dem Machbaren und dem Wichtigen. Diese wiederum fehlt dem neurodiversen Menschen oft, was nicht heißt, dass dies so sein oder bleiben muss.
Gerechtigkeit
Beim Neurodivergenten Menschen kommt hinzu, dass er mit unausgegorenen Gedanken oder gar Ungerechtigkeiten („die es nun mal gibt“, wie der neurotypische Mensch sagt) schwer umgehen kann. Auch wenn sich nichts daran ändern lässt: Es muss raus, zum Leidwesen aller, denn die haben das Thema schon abgehakt und nehmen sich dem Machbaren an. Zudem sind viele dieser Ungerechtigkeiten kaum oder zumindest nicht realistisch von einem Menschen alleine zu ändern (das Weltklima, Kriege, die Situation von Flüchtlingen, etc.). Wenn alle es nur so sähen, wie es der neurodivergente Mensch tut, dann wäre die Welt in Ordnung. Dabei ist es nicht so, dass er ein Besserwisser wäre. Vielmehr ist er davon überzeugt, dass das Ergebnis seiner Gedanken das bessere ist. Und nicht selten sind die Dinge besser und vielschichtiger durchdacht, einfach, weil er es kann.
Spiritualität
Wenn ich abends in den Himmel schaue oder tagsüber das Leben betrachte, das auf unserer Erde zu finden ist, dann kann ich unmöglich annehmen, dass, was wir hier erleben, alles sein soll. So könnte ein neurodiverser Mensch reden. Für ihn gehört Spiritualität, in welcher Form auch immer, dazu. Das kann sich sehr unterschiedlich äußern, von der Annahme einer Existenz, die unser Universum steuert, bis zu metaphysischen Annahmen oder Modellen, die derzeit angedacht werden (Multiversum, Quantenmechanik). Sie äußert sich auch in Gedanken über ein Leben vor der Geburt und nach dem Tod.
Soweit eine recht kurze und unvollständige Aufzählung verschiedener Zustände, die Neurodiversität beschreiben können. Nun mag man annehmen, dass ein hochsensitiver Mensch den ganzen Tag am Leiden ist, weil er so viel wahrnimmt und verarbeitet, mit zugehaltenen Ohren überall zu sehen ist, weil ihn jedes Geräusch stört. Dem ist natürlich nicht so. Er ist es gewohnt, viel wahrzunehmen und dementsprechend zu denken, zu schlussfolgern und auch mitzuteilen.
Der Prophet im eigenen Land
Es ist aber auch so, dass ein neurodiverses Gehirn nicht die Entscheidung treffen kann, jetzt etwa mehr und dann etwas weniger zu denken. Es nimmt ununterbrochen wahr, es denkt ununterbrochen über das Wahrgenommene nach, es vergleicht, es verknüpft und versucht dabei, Informationen so zu verarbeiten, dass dabei ein gerechtes Ergebnis für alle herauskommt. Das funktioniert natürlich nicht immer. Denn einerseits wollen viele Menschen die Segnungen der Seher nicht und andererseits können sie die Gedanken und die daraus folgenden Ergebnisse auch nicht nachvollziehen. Kurzum: Der neurotypische Mensch will seine Ruhe und die Dinge so lassen, wie sie sind. Nachfragen werden nicht selten als Provokation gesehen oder als Spinnerei.
Das heißt ja auch nicht, dass der neurodiverse immer recht hat. Er sieht die Dinge erst einmal differenzierter und kann mehr und schneller Verknüpfungen herstellen, um ein Thema zu beleuchten. Genau hier liegt das Dilemma.
Rückzug
Aus diesem Verhalten und den (durchaus verstehbaren) ablehnenden Reaktionen folgt Frust, zumindest so lange der neurodiverse Mensch nicht um seine Fähigkeiten und Unfähigkeiten weiß. Daraus können dann auch Erkrankungen entstehen, die nicht aus der Neurodiversität, sondern aus dem Verhalten darauf durch die Umwelt erfolgen. Vor allem aber können Radikalisierung und vor allem Rückzug eine Konsequenz sein. Radikalisierung folgt aus der Wut heraus, nicht ernst genommen zu werden und ist die Konsequenz aus dem Nicht loslassen können seiner Schlussfolgerung. Viel eher folgt aber der Rückzug. Wer den Eindruck hat, dass seine Fähigkeiten nicht gewünscht sind oder gar pathologisiert oder charakterlich diskreditiert wird, um sich nicht weiterhin mit unangenehmen Gedanken beschäftigen zu müssen, wird sich den Beurteilungen anderer nicht mehr weiter aussetzen wollen.
Einsamkeit
Einsamkeit ist nicht nur die Konsequenz aus der Ablehnung durch die anderen. Sie ist neurodiversen Menschen nicht selten innewohnend. Nicht zuletzt liegt das daran, dass sie von Beginn an anders denken und fühlen. Ein Kind wird dies nicht intellektuell erfassen können und auch ein Erwachsener tappt meist im Dunkeln. Oft werden die Verhaltensweisen der anderen nicht verstanden, gesellschaftliche Regeln erscheinen nicht logisch und die Behandlung der meisten Themen an der Oberfläche langweilen. Es ist nicht so, dass der Neurodiverse die anderen dafür verachtet. Vielmehr hat er das Gefühl, selbst nicht dazuzugehören.
Ein Beispiel
Ein Zehnkämpfer wird nicht als solcher geboren. Er wird aber mit der entsprechenden körperlichen Ausstattung geboren, der nötigen Disziplin und bestenfalls einer guten Unterstützung durch die Eltern. Niemand wäre ernsthaft neidisch auf den Sportler oder würde ihn deswegen ausgrenzen. Nicht zuletzt weiß jeder, dass es auch Dinge gibt, die der Sportler nicht kann. Vielmehr würde man ihn bewundern und anfeuern und gegebenenfalls nach Hilfe fragen, wenn man etwas über gutes Training erfahren wollte.
Bei Hochsensiblen, autistischen oder ADHS-Menschen macht man das eher nicht. Man pathologisiert sie nicht selten, weil ihr Verhalten störend ist und sei es nur, weil es anders ist. Dabei sind diese Menschen mit Fähigkeiten gesegnet, die sie in vielen Situationen besser dastehen lassen, als andere. In anderen wiederum nicht. Vor allem sind sie in der Lage, Visionen zu erzeugen und Lösungen für komplexere Probleme, die kreativer sind, als viele andere.
Als erstes gilt es zu verstehen, dass Neurosensitvität keine Krankheit sondern eine Besonderheit ist. Sie zu erkennen, anzuerkennen und sich damit zu beschäftigen und eine guten Umgang damit zu finden, sodass die störenden Eigenschaften kompensiert und die nützlichen entsprechend eingesetzt werden können. Das ist die Herausforderung für den Einzelnen, aber auch für die gesamte Gesellschaft, die davon profitieren kann.