Neurodiversität – was ist das?
Die Beschreibung psychischer Störungen
In der Psychiatrie werden Krankheitsbilder unterschieden. Die Depression von der Manie, von der Angst, von der Psychose, und so weiter.
Die Ursachen sind unterschiedlich, zum einen reaktiv auf die Ereignisse im Umfeld, oder endogen, von irgendwo herkommend, aus dem Inneren, vermutlich dem Neurotransmitterhaushalt. So wurde in den achtziger Jahren darauf hingewiesen, dass Depressionen aus einem Mangel an Serotonin entstehen. Serotonin ist ein Hormon, das für die Weiterleitung von Reizen im Gehirn zuständig ist. Diese Geschichte war nichts weiter als eben das: Eine Geschichte. Sie wurde dankbar aufgenommen, schnell falsifiziert (der Serotoninspiegel depressiver Menschen ist sehr unterschiedlich, hoch oder niedrig), geistert aber heute noch in Fachliteratur und in den Namen der Antidepressiva herum.
Und so versucht man, Ursachen dieser vielen unterschiedlichen Erkrankungen irgendwie zu ergründen. Dokumentiert sind alle in der ICD der Weltgesundheitsorganisation oder dem DSM der amerikanischen Vereinigung der Psychiater, an sich recht ähnliche Verzeichnisse, die sich in manchen Einschätzungen unterscheiden.
Das triadische System
Im Vorgänger dieser analytischen Werke, die eine klare Symptomliste vorschreiben, um die Erkrankungen diagnostizieren zu können, ging ein anderes System voraus. Während die ICD und das DSM sich nur noch auf die Symptome, die Phänomenologie, einer Störung beziehen, beschrieb das triadische System die Ursachen.
Das triadische System teilte die psychischen Störungen in drei Bereiche auf. Die rein psychogenen Störungen bezogen sich vor allem auf neurotische Störungen wie Angst, Zwang und somatoforme Störungen. Die rein exogenen Störungen beschrieben die durch körperliche Erkrankungen oder externe Stoffe ausgelöste psychische Störungen. Die endogenen Störungen wiederum bezogen sich vor allem auf schwere Depressionen und psychotische Erkrankungen, die so schwerwiegend eingestuft wurden, dass man davon ausging, hier noch eine körperliche Komponente einbeziehen zu müssen. Dabei war immer recht unklar, welche das sein könnte.
Inhalt und Struktur
Dazu lohnt es, sich zu vergegenwärtigen, dass unser Gehirn, Stand heute, sowohl die Speicherung unseres Wissens, als auch dessen Bearbeitung beinhaltet. Zum Vergleich, sind die Einheiten der Speicherung und der Verarbeitung in einem Computer getrennt – noch. Heißt, es gibt eine Festplatte mit allem Wissen und einen Prozessor für dessen Verarbeitung.
Beides, Speicherung und Verarbeitung, hängt sowohl vom Vorhandensein der entsprechenden Hormone ab, also auch vom Aufbau des Gehirnes. Beides erledigt in Zusammenarbeit die entsprechenden Aufgaben. Nach neueren Erkenntnissen hatte das triadische System gar nicht so unrecht, wenn es eine körperliche Beteiligung bei psychischen Störungen postulierte. Allerdings ist das wohl nicht nur bei schweren Depressionen oder psychotischen Störungen der Fall, sondern kann bei allen Störungen eine Rolle spielen.
Kurzer Einschub: Wenn wir von körperlichen Einflüssen hören, dann gehen wir meist von körperlichen Störungen aus. Irgendwas im Gehirn muss also krank sein und deshalb wird auch unsere Psyche krank.
Eine neue Perspektive
Mit den Begriffen „Neurotypisch“ und „neurodivergent“ hat man schon ab 2012 eine neue Sichtweise, auch auf die vorher aufgeführten Erkrankungen geschaffen. Sie rückt sogar teilweise von diesem pathozentrischen Weltbild ab. Doch von Anfang an: Was heißt das überhaupt, neurotypisch, pathozentrisch? Die gängigen Therapiemodelle schauen mit der Erkrankung im Mittelpunkt auf den Patienten. Das nennt man pathozentrisch. Der depressive Mensch also hat entweder eine Störung des Neurotransmitterhaushaltes oder dysfunktionale Gedanken. Beides muss reguliert werden, der Neurotransmitterhaushalt mit Medikamenten, die dysfunktionalen Gedanken mit einer Therapie.
Medikamente, das ist mittlerweile Status Quo, helfen allenfalls bei schweren Depressionen über den Placeboeffekt hinaus. Therapien sind ebenso kein Garant für eine nachhaltige Heilung oder Remission, wie der Begriff Heilung lieber umrissen wird.
Mit dem Konzept der Neurodivergenz beschreibt man nun eine Funktionsweise, die weder etwas an sich krankhaftes, noch falsch Erlerntes beschreibt. Vielmehr bildet sie ein Spektrum formalen Denkens ab, das sich in wesentlichen Dingen von denen der meisten anderen (neurotypischen) Menschen unterscheidet.
Zur Neurodivergenz gehören z.B. die Autismus-Spektrum-Störung, die Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperkinetische Störung oder die Hochsensibilität. All dies sind Zustände, die dann als störend bezeichnet werden können, wenn sie auf die falsche Umgebung treffen.
Die Umgebung macht die Störung
Diese falsche Umgebung kann zu laut oder zu grell sein, es können Bildungseinrichtungen sein, die auf neurotypische Menschen ausgelegt sind, was auf die meisten zutrifft, das neurotypische Menschen schätzungsweise 80 % der Menschen ausmachen. Kurzum, alle Situationen, gesellschaftliche Anlässe aller Art, die an bestimmte Fähigkeiten anknüpfen, sind für die meisten Menschen normal und handhabbar. Für neurodivergente Menschen bedeuten sie eine große Herausforderung.
Neurodivergente Menschen sind vor allem in drei Bereichen anders ausgestattet oder talentiert
- Unterschiede in der Wahrnehmung
Sinneseindrücke werden anders gefiltert, verstärkt und empfunden. Licht wird greller wahrgenommen, einzelne Instrumente eines Musikstückes werden fokussiert und blenden den Rest des Songs aus, einzelne Geräusche in einem Raum stärker empfunden und verhindern die Konzentration auf ein Gespräch.
Die Unterdrückung nicht wichtiger Komponenten in der Umgebung oder gar die Hervorhebung einzelner Wahrnehmungen, bewirken, dass der neurodivergente Mensch anders mit der Umwelt umgeht und sie vor allem auch anders interpretiert.
- Unterschiede im neurochemischen Stoffwechsel
Hier wird vor allem auf das Hormon Dopamin verwiesen, das bei neurodivergenten Menschen zu schnell abgebaut wird. Bei ADHS bewirkt dies eine geringere Aufmerksamkeitsspanne.
- Unterschiede der neuronalen Verknüpfungen
Dies hat Einfluss auf die Art und Weise, wie mit Reizen umgegangen wird. Werden sie unterdrückt oder hervorgehoben? Denke ich an einer Sache bis ins Detail herum oder lasse ich es auf sich beruhen?
Das bedeutet, dass neurodivergente Menschen meistens mehr und intensiver wahrnehmen, die Dinge weitaus detailreicher bedenken, weniger Wert auf Etikette oder das Aussprechen unangenehmer Wahrheiten oder Fragen legen. Mit all diesen Eigenschaften stören Sie allerdings auch das soziale Gefüge, das sich eher im Einhalten sozialer Codes statt im Initiieren wichtiger Veränderungen übt und auch Tabuthemen lieber unterdrückt, statt sie anzusprechen.
„Jetzt lass doch mal gut sein!“, oder „Denk nicht so viel darüber nach!“ sind häufige Entgegnungen. Der Neurodivergente mag antworten „Denk doch mal etwas mehr nach!“. Das allerdings stößt dann wieder auf Gegenwehr, denn die meisten Menschen denken eben neurotypisch.
Nicht weniger, sondern anders.
Das bedeutet übrigens nicht, dass sie seltener oder wirklich weniger denken, sondern, dass sie die Denktiefe eines neurodivergenten nicht haben. Sie stoppen die Gedanken, bevor sie in seltsame oder beängstigende Gefilde vorstoßen. Sie priorisieren besser.
Während das neurodivergente Gehirn einkommende Reize am liebsten gleich verarbeitet und ihnen nachgeht, kann das neurotypische Gehirn eingehende Reize ausblenden oder priorisieren. So schlittert der neurodivergente Geist von einer Situation in die andere, weil die gerade in seinem Sichtfeld auftaucht. Das hört sich anstrengen an und ist es auch – in bestimmten Situationen. In anderen Umgebungen wiederum ist es der neurotypische Geist, der diese als anstrengend empfindet.
Vor- oder Nachteil?
Für beide Typen gibt es Situationen, die sie zu ihrem Vorteil nutzen können und solche, die ihnen zum Nachteil gereichen. Neurodivergente Menschen sind besser im Beschreiben von Visionen, finden von Ideen und über den Tellerrand denken. Im Gegenteil – nur da fühlen sich viele überhaupt erst wohl. Neurotypische Menschen sind in der Regel besser in der Umsetzung dieser Ideen. Insofern braucht man jede Art Denkerin und Denker. Trotzdem haben neurodivers denkende Menschen hier und da durchaus mehr Probleme bei der Alltagsbewältigung, da sich das Leben eben an der Norm orientiert. Insofern sollte man allerdings nicht verzagen, sondern sich darum kümmern, wer man ist und dementsprechend in der Welt den Platz finden, auf den man am besten passt und das hinzunehmen, was eben nicht so passt.
Das Potenzial, das zu erkennen und zu tun, haben neurodivergente Menschen jedenfalls.